Déjà vu (Kurzgeschichte)
Ich beobachtete die Kerze, die vor mir auf dem Tisch stand. Es war unser Tisch. Schon seit Jahren saßen meine beste Freundin und ich jeden Abend nach der Arbeit hier beisammen. Doch heute war es irgendwie anders. Ich hatte sie schon seit einer Woche nicht mehr gesehen. Sie machte gerade die schwerste Zeit ihres Lebens durch. Ja, sich scheiden zu lassen, war noch nie leicht, aber sie war meine beste Freundin und ich ihre. Es war einfach so anders. Die Kerze auf dem Tisch war bis eben seelenruhig daher geflammt, doch nun begann sie wild zu flackern. Ich sah, wie meine beste Freundin am Fenster vorbei ging. Ihr Blick war gesenkt, sie schaute niemandem in die Augen und ihr Gang war unsicher. Als sie die Tür zum Restaurant öffnete, flackerte die Kerze so stark, dass ich dachte, sie ginge gleich aus. In diesem Moment hob sich zum ersten Mal an diesem Abend ihr Blick. Sie sah mich dort sitzen, so wie immer. Ihre Mundwinkel machten Anstalten zu lächeln, doch ob sie tatsächlich gelächelt hat, weiß ich nicht. Sie schaute gleich wieder zu Boden und steuerte auf unseren Tisch zu. Sie setzte sich auf den freien Stuhl gegenüber von mir, hing ihre Jacke an den Garderobenhaken und nahm sich ein Stück Kandis – so wie immer. „Wie geht es dir?“, traute ich mich schließlich zu fragen und brach damit unser Schweigen. Sie stockte augenblicklich in ihrer Kaubewegung und sah mich an. Ihre stahlblauen Augen trafen mich wie ein Schlag auf den Hinterkopf. So stahlblau waren sie nur, wenn sie gerade geweint hatte oder wenn sie kurz davor war, zu weinen. Ich wollte sie so gerne in den Arm nehmen, doch auch ich saß stocksteif da. Wir betrachteten uns eine Weile, wir sahen aus wie Schwestern. Bleiche Haut, blaue Augen, braune Haare und auf unseren Gesichtern zeichneten sich die gleichen Züge ab. Kleine aber markante Nase, große aber schmale Augen und Lippen rot wie Blut. Wir kannten uns so gut – wie Schwestern waren wir. Doch nun waren wir uns fremd – irgendwie. Ihre Augen hatten dieses merkwürdige Glitzern an sich, so als wäre sie innerlich tot und doch lebendig. „Wie soll es mir schon gehen?“, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. „Er hat alles mitgenommen, Möbel, Geschirr, selbst mein Brautkleid ließ er mitgehen.“ Ich blickte tief in ihre toten und doch lebendigen Augen. Wie gerne ich jetzt die Zeit zurückdrehen würde. Ich wollte sie aufmunternd anlächeln, doch über meine Lippen kam nur ein mitfühlendes Schluchzen. Ich gab ihr meine Hand und sie griff sofort nach ihr. Es machte mir nichts aus, dass sie meine Hand gerade fast taub drückte. Aus ihren stahlblauen Augen traten Tränen aus. Viele traurige Tränen. Wie ein Meer aus Leid und Unglück rannen sie ihr die Wangen hinunter. Auch meine Augen begannen sich mit Tränen zu füllen, als die Tür zum Restaurant aufging. Ein Mann, bekleidet mit einem Anzug, trat ein. Er sah gut aus. Seine Haare waren nach hinten gekämmt. So hatte es ihr Mann zu Beginn ihrer Beziehung auch immer getan. Der Mann ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und blieb bei meiner besten Freundin stehen. Ich kitzelte ihr Handfläche, sie sah mich erschrocken an. Sie formte mit ihren Lippen ein „Warum“, da sie mit ihrer weinerlichen Stimme keinen Ton rausbringen konnte. Ich lächelte sie an, drückte kurz ihre Hand und nickte in Richtung des Mannes. Sie drehte sich um, erblickte ihn und lächelte. Ihre Wangen glühten rosig auf. Ihr Blick blieb für eine längere Zeit an dem Mann haften. Es war verrückt, schon fast absurd. Es war wie damals. So lernte sie ihren Mann kennen – der Mann, von dem sie sich hat scheiden lassen. Sie drehte sich zu mir um, griff nach einem Stück Kandis und lächelte. Es bereitete mir Freude, sie lächeln zu sehen. „Es ist wie damals“, sagte sie mit fester Stimme und gluckste dabei schon fast. „Schon verrückt, wie ein Déjà vu.“ Ich griff auch in die Kandis-Dose, süße Sachen machen glücklich. Das hatte sie mir damals auch schon gesagt. Und es stimmte. „Ja, wie ein Déjà vu“, sagte sie und nickte. Sie lächelte und blickte mich gerade heraus an.
Bild: „Chop Suey“ von Edward Hopper
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