Ich verstehe das Kreuz nicht (mehr)
„Du darfst das Kreuz neu entdecken.“
Das sagte Thomas zu mir vor einigen Tagen in einem Gespräch über das Evangelium.
Am letzten Wochenende waren wir beim SWD-EC-Leitertag mit dem Schwerpunkt „Evangelisation“, wo unter anderem über die Bedeutung des Evangeliums referiert wurde. Ein wichtiger Punkt, der mich an diesem Tag bewegt hat, war die Feststellung, dass das klassische 4-schrittige Evangelium (THE FOUR) eine zu verkürzte Darstellung sei, da das Evangelium noch viel mehr Aspekte beherberge.
Das brachte mich ins Nachdenken über das Kreuz und Jesu Tod.
Infolge von Thomas’ Ermutigung suchte ich online nach verschiedenen Deutungen des Kreuzes und stieß schließlich auf die aktuelle Reihe von Martin Benz’ Podcast „Movecast“ zum Thema „Das Kreuz verstehen“ (Folgen 153–160).
In 8 Folgen beschreibt er folgende biblische und kirchengeschichtliche Deutungsmöglichkeiten:
*Zusammenfassungen auf Grundlage von Folge 160
1.) Jesus als Märtyrer
Er stirbt wegen der Bosheit, der Gier, des Neids und der Schuldhaftigkeit der Menschen und wird von ihnen ans Kreuz gebracht. Von Gott wird er in der Auferstehung als sein Sohn, als Lehrer, als Wundertäter und als Messias gerechtfertigt.
2.) Jesus als Lösegeld
Die Menschheit ist verkauft – im Besitz des Bösen, der Sünde und des Todes. Jesus zahlt das Lösegeld, damit die Menschheit wieder frei sein kann.
3.) Jesus als Sündopfer (Sühneopfertheologie)
Hierfür gibt es die Bilder vom Sühneopfer, vom Passahlamm und vom Sündenbock – alle drei Bilder machen deutlich, dass Jesus durch ein Opfer die Menschheit mit Gott versöhnt.
4.) Jesus als eherne Schlange
Als Bild der ehernen Schlange kommt durch Jesu Kreuzestod Heilung und Heil zum Volk.
5.) Jesus als Sühnedeckel (Deckel auf Bundeslade)
Als Sühnedeckel ist durch Jesu vergossenes Blut Sühne geschehen.
6.) Jesus als Verfluchter
Als Verfluchter befreit Jesus uns am Kreuz vom Fluch des Gesetzes.
7.) Jesus als Sieger (Christus Viktor)
Die ganze Welt steht unter der Macht des Bösen und Christus befreit als Sieger die Menschheit aus dieser Gefangenschaft und der Macht der Bösen.
8.) Jesus als Wiederhersteller der Ehre Gottes (Satisfaktionslehre)
Die Ehre Gottes wurde verletzt durch die Schuld der Menschen und es herrscht nun eine Wiederherstellung der Ehre, weil Jesus als sündloser Mensch, der die Gebote Gottes einhält, am Kreuz stirbt und damit Gottes Ehre wiederherstellt.
9.) Jesus als stellvertretend Bestrafter (Penal Substitution Theory)
Jesus nimmt am Kreuz die Strafe auf sich, die wir verdient hätten. Damit tut er der Gerechtigkeit genüge und Gott kann uns gerecht sprechen, so dass wir die Strafe nicht selbst tragen müssen.
Zudem geht Martin Benz auf zwei weitere Aspekte und unterschiedliche Deutungen ein:
a.) Jesu Tod am Kreuz ist heilskonstituierend
Das Heil entsteht am und durch das Kreuz. Gott braucht das Kreuz, um uns vergeben zu können.
b.) Jesu Tod am Kreuz ist heilskonstatierend
Das Heil wird am und durch das Kreuz sichtbar, entsteht dort aber nicht, sondern wurzelt im Wesen Gottes. Wir brauchen das Kreuz, um Gottes Vergebung erkennen und glauben zu können.
Was ist richtig?
Während meiner fundamental-christlichen Zeit war das Kreuz für mich immer ganz klar. Es gab eine richtige Deutung und diese war gleichzeitig das Evangelium: Gott liebt uns Menschen, aber wir sind aufgrund unserer Sünde von ihm getrennt, darum stirbt Jesus stellvertretend für uns am Kreuz und nimmt unsere Sündenschuld auf sich, so dass Gott uns vergibt und wir – statt in die Hölle zu kommen – ewiges Leben haben, wenn wir uns für ihn entscheiden.
Doch je näher Ostern rückt und je mehr ich mich mit verschiedenen Deutungen befasse, desto mehr merke ich mein Hadern mit dem Kreuz, mit Jesu Tod und mit meinem eigenen Unverständnis dessen.
Warum verstehe ich das Kreuz nicht mehr? Warum ist es auf einmal so komplex? Warum stirbt Jesus? Warum stirbt er ausgerechnet am Kreuz? Für wen oder was stirbt er? Warum wird er wieder auferweckt?
Thomas hat mich ermutigt und mir geraten, die unterschiedlichen Deutungen nicht gegeneinander auszuspielen. Denn sie alle sind lediglich Versuche, menschlich zu erklären, was tatsächlich am Kreuz geschehen ist.
Es wurmt mich zwar, dass ich keine „einfache Antwort“ mehr auf die Frage nach dem Kreuzestod habe – und doch tröstet es mich, zu wissen, dass wir alle das Kreuz niemals gänzlich fassen können mit unserem menschlichen Verstand.
Hi Daniela, du spricht ein wichtiges Thema an, das jeden von uns betrifft. Denn das Evangelium anderen Leuten zu verkünden ist schließlich die Aufgabe, die uns Jesus anvertraut hat. Und dafür sollten wir ein klares Bild vom Evangelium und vom Kreuz haben.
Deine Fragen “Warum stirbt Jesus?”, “Warum am Kreuz?”, “Warum die Auferstehung?” sind Fragen, die mich seit nun mehr als drei Jahren umtreiben – seit ich japanischen Boden betreten habe. Denn ich will den Menschen hier eine Botschaft bringen, die wirklich eine “gute Botschaft” ist, und die “für sie” ist, für ihre Situation.
Ich habe die Bibel rauf- und runtergelesen, Gott direkt gefragt und mehrmals über Wochen gefastet. Und Gott hat mir so einiges gezeigt, Dinge, für die ich ihn vor Jahren wohl noch an die Wand geklatscht hätte, die aber mehr und mehr Sinn machen und zu Gottes Charakter passen.
Du stellst diese verschiedenen Sichtweisen vor, die sich zum Teil widersprechen. Versuchen, sie nicht gegeneinander auszuspielen, ist ein nobler Gedanke. Doch enthalten manche mehr Wahrheit als andere, und manche sind schlichtweg falsch, irreführend und finden keine wirkliche biblische Unterstützung.
Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, denn, wie du sagst, man muss das Kreuz selber entdecken. Das heißt nicht, dass es für jeden anders ist. Es ist immer gleich! Aber unsere Herzen sind unterschiedlichen stark belastet mit Lügen, Angst und falschen Bildern von Gott. Und genauso, wie Gott selbst, liegt es nicht einfach auf der Straße herum. Man muss es suchen, finden wollen, und wie einen Schatz heben.
Nur so viel zu den unterschiedlichen Sichtweisen: Alles was die Personen Gottes entzweit und die Dreieinheit auseinanderbringt, kann nicht richtig sein. Alles was den Vater zum “Feind” und Jesus zum “Freund” macht, stellt Gott in ein falsches Licht. Gott ist gerecht, aber er bringt nicht den Tod. Gerechtigkeit (righteousness) bringt Leben hervor.
Noch so ein spannendes Thema… das wie du es nennst „klassische vier-schrittige Evangelium“ ist tatsächlich sehr leicht zu verstehen und weiterzugeben – vorallem hier im Westen. Aber wenn das Evangelium doch viel mehr als das ist, wenn es beim Evangelium eben nicht in erster Linie darum geht dass du persönlich gerettet wirst (was Rettung auch immer bedeutet), dann ist es doch absolut wert auf die Suche zu gehen… auch wenn das viele Jahre dauert…