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Meine Freikirchen-Vergangenheit – Darum bin ich ausgestiegen

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Triggerwarnung

Dieser Text enthält sensible Inhalte, darunter:
Mobbing, Ableismus, geistlicher Missbrauch & Sektenstruktur, Queerfeindlichkeit, AfD, Radikalisierung & religiöser Fundamentalismus, toxische Beziehung, Purity Culture, Depression & Suizidgedanken.
Bitte achtet gut auf euch beim Lesen.

Dies ist meine Geschichte, wie ich als Jugendliche in eine fundamentalistische, sektenähnliche Freikirche geriet, Missbrauch erlebte und nach 11 Jahren schließlich ausgestiegen bin.

Bitte bleibt respektvoll in den Kommentaren.

2005/2006

In der Schule begannen die ersten Mitschüler:innen, mich zu mobben. Mir wurde u.a. Kleber ins Trinken geschüttet, Beine gestellt und meine Gehhilfen geklaut, auf die ich zu der Zeit angewiesen war.

2010

Ich erlebte seit bald 6 Jahren Mobbing und hatte kaum Freund:innen in meinem Schulalltag. Ende 2010 teilte ich aus Enttäuschung, dass ich nicht zu dem Geburtstag einer Klassenkameradin eingeladen wurde, die ich mochte und die ich mir als Freundin wünschte, meine Gefühle auf Facebook. Eine Bekannte, die ich aus der Schule und von Busfahrten kannte, sprach mich darauf an und lud mich in ihre Freikirche zur gemeinsamen Silvesterfeier mit der dortigen Jugendgruppe ein. Vor Ort fühlte ich mich zum ersten Mal seit langem gewollt.

2011

Ich begann, regelmäßig die Jugendgruppe der Freikirche zu besuchen und lernte viel über den Glauben und vor allem die Bedeutung der „Bekehrung zu Jesus“, da man sonst in die Hölle kommen würde. Im März 2011 bekehrte mich schließlich nach einer aufwühlenden Predigt über die Hölle.

2014

Durch den Einfluss der Freikirche radikalisierte ich mich zunehmend. Ich drängte meine Familie immer wieder, sich zu bekehren, da sie sonst in die Hölle kämen. Ich begann immer mehr, mich selbst für mein „sündiges Selbst“ zu hassen. Und ich äußerte mich öffentlich erstmals gegen homosexuelle bzw. queere Menschen.

2017

Ich wählte bei der Bundestagswahl die AfD, um ein Zeichen gegen das Recht auf Abtreibungen und die „Ehe für alle“ zu setzen.

2018/19

Ich geriet in eine toxische Beziehung zu einem ebenfalls fundamentalistisch-gläubigen Mann. Die Beziehung und die Trennung schadeten mir so sehr, dass ich mich (vor allem hinsichtlich Sexualmoral) noch stärker radikalisierte – in dem Wunsch, mich damit vor einem erneuten Herzbruch schützen zu können. Gleichzeitig wurde ich als Christfluencerin immer bekannter.

2020

Angeregt durch die Pandemie und Verschwörungsmythen, die in manchen (christlichen) Kreisen kursierten und denen ich sehr skeptisch gegenüber war, begann ich ein Journalismus-Studium. Hier merkte ich zum ersten Mal sehr deutlich, dass ich anders „ticke“ als meine Freikirche.

Sommer 2021

Ich lernte meinen heutigen Mann Thomas kennen. Unser Hobby (Animes) und unser Glaube verbanden uns. Doch auch wenn Thomas’ Glaube meinem ähnlich war, glaubte er in gewissen Aspekten sehr anders als ich. Ich begann zu diskutieren, weil ich glaubte, im Recht zu sein mit meinem fundamentalistischen Glauben.

Herbst 2021

Ich bemerkte durch die Diskussionen mit Thomas, der studierter Theologe war/ist, Unstimmigkeiten in fundamentalistischen Lehren und Dogmen. Ich begann zu zweifeln und zu hinterfragen. Und ich teilte meine Zweifel schließlich öffentlich auf Instagram und auf meinem christlichen Blog „ewiglichtkind“.

Anfang 2022

Meine Freikirche sah meine öffentlichen Zweifel nicht gerne. („Ist die Bibel wirklich Gottes Wort? Ist Homosexualität wirklich Sünde?“ etc.) Ein Leiter der Freikirche stellte mich immer wieder zur Rede, um meine „Fragen zu beantworten“ und meine Ansichten zu korrigieren. Zeitgleich lernte ich durch Thomas und andere progressive Christ:innen extrem viel, was meinen fundamentalistischen Glauben ins Wanken brachte.

Frühjahr 2022

Die Situation in meiner Freikirche und der geistliche Missbrauch wurden schließlich zum Psychoterror für mich: Der Leiter meiner Freikirche stellte mich öffentlich in einer Predigt bloß und denunzierte mich. Als ich daraufhin verletzt reagierte, wurde weiterhin in „klärenden Gesprächen“ auf mich eingeredet. Meine Social-Media-Kanäle wurden von meiner Freikirche zensiert – ich durfte meine Zweifel und neuen Erkenntnisse nicht mehr posten. Zum Schluss des wochenlangen Psychoterrors stellte meine Freikirche mich sogar vor die Wahl: Entweder ich lasse mich auf weitere „Gespräche“ ein, um meine Fragen zu klären (= um mich wieder auf die rechte Bahn zu bringen) oder mein „Weg in der Gemeinde endet“ (= Drohung, dass ich aus der Freikirche ausgeschlossen werde). Da ich zu diesem Zeitpunkt bereits schwer depressiv war und Suizidgedanken hatte, entschied ich mich dafür, mein Leben zu retten und die Freikirche selbstbestimmt zu verlassen.

Aktuell

Ich bin seit über drei Jahren kein Teil mehr der Freikirche. Ich habe meinen Glauben dekonstruiert und zu einem neuen, reflektierten Glauben gefunden, der Zweifel und Wachstum zulässt. Und vor allem: Der mich Ich selbst sein lässt. Ich muss mich heutzutage als neurodivergente Frau nicht mehr klein machen. Darum leiste ich heutzutage Aufklärungsarbeit, um Menschen zu helfen, aus toxischen Strukturen & Glaubenskonstrukten herauszukommen. Ich will mit meiner Arbeit Selbstermächtigung & Selbstreflexion fördern, Mut machen & Hoffnung schenken.

Hinweis zum Sektenbegriff

Der Begriff ist wissenschaftlich umstritten. Ich persönlich verwende den Begriff „Sekte“ dennoch und bezeichne meine ehemalige Freikirche mittlerweile als Sekte, weil der Begriff die Gefahr, die meines Erachtens von meiner ehemaligen, fundamentalistischen Freikirche ausgeht, besser zum Ausdruck bringt.

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