Freikirchen-Ausstieg | Bericht Nr. 3
Triggerwarnung: religiöser Zwang, Gewalt, Missbrauch, Sexismus, Isolation, Schuld, Scham.
In unserer Gemeinde musste man als junge Frau die Schule nach der 10. Klasse verlassen und entweder eine Lehre als Erzieherin oder Krankenschwester machen. Mit Beginn der Ausbildung begann das Werben. Also dass man als „Objekt“ eines Glaubensbruders ausgewählt wurde. Dafür gab es innerhalb der Sonntagsschule besondere Termine. Bis zum Ende der Ausbildung waren die meisten dann schon eine Ehefrau.
Die Hochzeiten waren ohne Glanz. Es war ein Teil des Sonntagsgottesdienstes, wo die Eheschließung vollzogen wurde. Dann kam die erste Wohnung und man verband sich. Vor der Hochzeit war ein Zusammenleben nicht erlaubt.
Ein besonders demütigendes Ritual war der Beginn, ab dem ein Mädchen ihr Haupt bedecken musste. In dieser Gemeinde war es der Zeitpunkt, an dem man eine „Frau“ wurde, also der Beginn der Periode. So konnte man genau sehen, wer in der Sonntagsschule und im Gottesdienst verhüllt war und wer nicht und es war wie, dass man dann quasi am Pranger stand und jeder wusste, was eigentlich niemand wissen soll. Meine 3 besten Freundinnen und ich machten einen Plan. Ab dem Punkt, ab dem die erste von uns so weit war, verhüllten wir uns alle und so konnte man etwas Diskretion sicherstellen. Wir bezahlten die Maßnahme mit einem Ruf der Ältesten der Gemeinde und Strafen von unseren Eltern.
Thema Strafe: Die Züchtigung auf den Po mit einem Stock war biblisch gebilligt und angeordnet. Da mein Papa jedoch ablehnte mich zu züchtigen, und Mama es aufgrund der Hierarchie nicht durfte, war ich von Prügel weitestgehend verschont. Jedoch wurde ich, statt meine Hiebe zu erhalten, in meinem Zimmer eingesperrt. Also ohne Strafe ging es nicht.
Es war streng verboten, Kontakt zu „Weltmenschen“ zu pflegen, also alle, die nicht Jesus Christus als ihren Erlöser angenommen haben und den Weg der Sünde gingen. Bzw. auch Christen, die nicht in unsere Gemeinde gingen. Der Stall musste sauber bleiben. Die ersten 4 Jahre ging ich in eine Grundschule, die von der Gemeinde betrieben wurde. Da war man unter sich, einige Eltern aus anderen Gemeinden schickten auch ihre Kinder, da die Schule einen guten Ruf hatte und es dort Bibelunterricht gab. Diese 4 Jahre waren sehr schön. Es gab sehr viel zu lernen und wir verstanden uns sowohl mit Lehrern und den Schülern gut. Engste Freundschaften entstanden. Vor jeder Stunde wurde gesungen und gebetet. Schwache Schüler wurden von starken mitgetragen. Ab Klasse 2 begann die Musikerziehung. Die Regel der Gemeinde war, dass Instrumente und die menschliche Stimme nur zur Ehre des Herrn erklingen dürfen und so wurde nur „intern“ gelehrt. Meine Eltern entschieden die Geige und das Klavier. Da ich aber kein Talent für die Geige hatte und es auch nicht wollte, was ich aber nicht sagen durfte, wurde es dann das Klavier, die Gitarre und die Querflöte. Die Querflöte als Hauptinstrument, weil ich da einfach die größten Fortschritte machte, dann das Klavier und ab und an Gitarre. Der Musikunterricht machte einen Riesenspaß, auch wenn alles, wie alles was wir taten, zur Ehre des Herrn in aller Ehrfurcht ablief. Die Querflöte sollte dann auch in der 5. Klasse einer „weltlichen“ Schule den Wendepunkt in meinem Leben auslösen. Die Abschlussfeier nach Klasse 4 war ein Höhepunkt.
Wir 4 hatten uns da schon gefunden und waren unzertrennlich.
Wir kannten unsere Geheimnisse, unser Widerstand gegen die Regeln und den Wunsch, einfach mal aus der Haut fahren zu wollen aber das war ja nicht erlaubt. 3 von den 4 wurden regelmäßig gezüchtigt, 1 in ihrem Zimmer eingesperrt. Eine hatte einen besonders lieben Vater, der nicht nur die Kinder schlug, sondern auch die Ehefrau. Es war gegen Ende der 4. Klasse.
Wir hatten eine doofe Idee, die ordentlich Ärger geben sollte. Es hieß Schulranzen und Kleidertausch. Wir wechselten unsere Ranzen und Kleider und gingen dann bei den Eltern ins Haus, von denen wir die Kleider und die Ranzen trugen. Wir dachten, dass es einfach nur lustig war, jedoch fuhren die Eltern aus der Haut und es gab rote Striemen und Zimmerarrest.
Zur Versöhnung war ein Grillen angesagt, 3 von den 4 Familien waren zusammen. Es gab einen Riesenstreit zwischen den Eheleuten, Blut in der Küche, Schreie so laut ich sie noch nie hörte.
Mein Papa schnappte alle Kinder, meine Mama stand der Gezüchtigten bei. Das war am Freitagabend. Sonntags stand der Ehemann im Anzug im Versammlungssaal und lobte Gott. Er sollte bald einer der Ältesten sein.
Da erkannte ich, das dieses System faul war. Gott ist ja gerecht, lernten wir und er hasst Sünde. Was war die Prügel denn anderes als Sünde? Der Mann ist verpflichtet, seine Frau so zu lieben wie Christus die Gemeinde liebt, er gab sein Leben für sie.
Je älter ich wurde, die Fragezeichen nahmen zu.
Mein Papa war in vielen Dingen eine Ausnahme aus dem Gemeindeleben. Er war sonntags nicht unten, sondern er saß hinter dem Mischpult auf der Empore und ich auf seinem Schoß. Da mein Papa kein Patriarch war, durfte ich mit Lötkolben, Akkuschrauber, Lampen, und Drähten bauen. Sehr zum Leid meiner Mama, die mich lieber in der Küche gehabt hätte, aber da war ich oft genug.
Papa war Elektroingenieur. Da ich basteln durfte, hieß das, wir alle vier bastelten, denn wir waren unzertrennlich. Wir schliefen meist zusammen bei einer, außer bei der Bestimmten mit dem liebevollen Vater. Da durfte ich nicht mehr hin, aber sie durfte immer zu uns. Zwischen allen Mitgliedern gab es ein großes Vertrauen und jeder vertraute dem anderen seine Kinder an ohne Nachfragen. So muss ich dann doch anerkennend sagen, dass bis zum Ende der 4. Klasse meine Kindheit eine behütete, spannende, lehrreiche und vielseitige war. Unter dem Schutz des Höchsten, dem Schöpfer des Himmels und der Erde und seinem eingeborenen Sohn. Sünden wurden auf Knien vor das Kreuz gebracht. Jeden Abend knieten Mama und Papa mit ihrer einzigen Tochter am Bett und baten um den Segen. Morgens dankten wir für die Sonne und das Brot. In der Schule für das Wissen und unseren Verstand, im Sport für unsere ebenbildgleichen Körper, die zur Ehre des Herrn auf der Erde waren.
Es gab weder einen Osterhasen, noch einen Weihnachtsmann, nur den dreieinigen Gott. Und ich glaubte so fest daran, dass die kleine Leni trotz aller Sünde unter dem Schutz des Höchsten stand. Dass er immer da war, nur ein Gebet entfernt.
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